Das Gleichstellungsbüro lud am 21.11.2017 zur dritten Veranstaltung in der Reihe SOWOHL ALS AUCH in die Universitätsbibliothek ein. Zahlreiche Besucher*innen folgten dieser Einladung. Die Lunch Lecture stand dieses Mal unter dem Titel: „‘So hübsch und dann im Rollstuhl...‘ Ein Austausch über Geschlecht, Behinderung und Inklusion“.
Die Hauptakteurinnen der dritten SOWOHL ALS AUCH-Veranstaltung: Sabrina Schramme (vorne links) und Laura Gehlhaar (vorne rechts). Moderiert wurde die Veranstaltung von Helena Hartlieb (mitte). | Foto: Schaper
SOWOHL las die Berliner Autorin und Bloggerin Laura Gehlhaar zwei Kapitel aus ihrem Buch „Kann man da noch was machen? Geschichten aus dem Alltag einer Rollstuhlfahrerin.“ Eindringlich, mit viel Humor und Selbstironie beschreibt sie darin, mit welchen Besonderheiten und Vorurteilen sie als Frau mit Behinderung konfrontiert ist.
ALS AUCH widmete sich Sabrina Schramme der wissenschaftlichen Seite des Themas. Die Mitarbeiterin der Fakultät Rehabilitationswissenschaften an der Technischen Universität Dortmund forscht zum Thema Inklusion und legt einen besonderen Fokus auf das Zusammenwirken der Kategorien Geschlecht und Behinderung. In ihrem Vortrag gab sie einen Überblick über die Forschung zu Behinderung und Geschlecht in den Rehabilitationswissenschaften, zum Thema Intersektionalität und zum Zusammenhang mit Inklusion. Zudem präsentierte sie anhand von Interview-Ausschnitten Erkenntnisse aus ihrer eigenen empirischen Forschungsarbeit über die schulische Inklusion von Menschen mit Behinderung und bezog diese auf Laura Gehlhaars Schilderungen.
Helena Hartlieb, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Gleichstellungsbüro der TU Dortmund, moderierte das anschließende Gespräch mit den Gästen. Thematisiert wurde der Titel der Veranstaltung „So hübsch und dann im Rollstuhl…“. Laura Gehlhaar berichtete von der Irritation vieler Menschen über eine gutaussehende Frau im Rollstuhl: „Mal abgesehen davon, dass gutes Aussehen natürlich Geschmackssache ist, bemerke ich in meinem Alltag deutliche Unterschiede: Menschen reagieren oft verwundert, wenn ich geschminkt und schick angezogen bin. Wenn ich in Jogginghose unterwegs bin – was durchaus vorkommt – scheine ich hingegen eher in das allgemeine Bild zu passen.“ Sabrina Schramme ergänzte, dass genau hier die Verschränkung der Kategorien Geschlecht und Behinderung sichtbar wird. Auch in ihrer Studie gibt es Hinweise darauf, dass Frauen mit Behinderung mit anderen Erwartungen konfrontiert werden, als Männer mit Behinderung.
Das Thema Interaktion griff Laura Gehlhaar daraufhin noch einmal allgemeiner auf. Sie berichtete von ihren Erfahrungen beim Zusammentreffen mit Menschen ohne Behinderung und beschreibt zwei vorherrschende Extreme: Sehr große Distanziertheit oder eine erstaunliche Distanzlosigkeit. Letztere motivierte sie zu einem „Rollstuhlfahrer*innen-Bullshit-Bingo“. Dort fasst sie einige Kommentare zusammen, die ihr immer wieder begegnen. Zum Beispiel: „Soll ich schieben? Ich hab mal‘ Zivi gemacht.“ „Oh, Unfall gehabt? Selbst verschuldet?“ „Toll, dass Sie trotzdem rausgehen.“ „Also ich könnte das nicht!“
Auch die zahlreichen behinderten Interviewpartner*innen von Sabrina Schramme berichten von Vorurteilen und Stereotypisierungen, die ihnen begegnen. „Hier kann schulische Inklusion viel bewirken“, erläuterte die Wissenschaftlerin. Wenn Kinder schon in der Schule den Umgang mit Mitschüler*innen mit Behinderungen kennenlernen, werden Unsicherheiten gar nicht erst entwickelt, die später zu den beschriebenen Verhaltensmustern führen. Laura Gehlhaar hatte dem nur eines hinzuzufügen: „Schon im Kindergarten sollte das passieren!“
In die weitere Diskussion floss die aktuelle Debatte um den Hashtag #metoo und die fehlende Stimme von Menschen mit Behinderungen in dieser und ähnlichen Debatten ein. Dass die Erfahrungen behinderter Frauen oft different zu denen nichtbehinderter verlaufen, wird unter anderem am Thema Mutterschaft deutlich. Auch Laura Gehlhaar machte die Erfahrung, dass einer Frau mit Behinderung eher dazu geraten wird, keine Kinder zu bekommen. Im Gegensatz dazu wird eine nichtbehinderte Frau ab einem gewissen Alter darauf hingewiesen, dass es an der Zeit wäre Mutter zu werden. Während ein Teil der Frauen also für das grundsätzliche Recht kämpfen, eine Familie gründen zu dürfen, geht es für einen anderen Teil darum, nicht auf ihre Gebärfähigkeit reduziert zu werden.
Das Publikum beteiligte sich mit Fragen an dem Gespräch. Hier ging es um die Möglichkeiten der politischen Teilhabe von Menschen mit Behinderungen und die Bedeutung von Protestveranstaltungen wie der Berliner Pride Parade. Noch einmal wurde die Frage nach gelungener Inklusion an Schulen und möglichen Alternativen aufgeworfen. Abschließend bekam Laura Gehlhaar die Gelegenheit ihrer Phantasie freien Lauf zu lassen: Wie stellt sie sich den Alltag in einer inklusiven Gesellschaft vor? Für die Antwort nahm sie sich Zeit und brachte es dann auf den Punkt: Barrierefrei. „Wenn ich einfach aus dem Haus gehen kann, ohne mir vorher Gedanken machen zu müssen, wie ich ohne Hindernis an mein Ziel komme.“
Mit SOWOHL ALS AUCH geht es 2018 weiter: Die nächste Veranstaltung findet im Sommersemester statt.
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Foto 1: Der Lesesaal der Bibliothek war gut gefüllt. | Foto: Scharper
Foto 2: Martina Stackelbeck, Zentrale Gleichstellungsbeauftragte, begrüßt die Gäste. | Foto: Schaper
Fotos 3, 4, 5: Laura Gehlhaar liest aus ihrem Buch "Kann man da noch was machen" | Fotos: Schaper
Foto 6: Helena Hartlieb, Sabrina Schramme und Laura Gehlhaar (v. l.) im Gespräch. | Foto: Neumann
Fotos 7 & 8: Die Referentinnen im Austausch über Geschlecht, Behinderung und Inklusion | Fotos: Spindelndreier
Foto 9: Laura Gehlhaar veröffentlichte 2016 ihre autobiografischen Erzählungen in Buchform und schreibt außerdem auf ihrem Blog Lauragehlhaar.com | Foto: Schaper